Samstag, 29. Juli 2017

Terror - Ferdinand von Schirach

"Sie, verehrte Damen und Herren Richter, müssen heute entscheiden. Folgendes ist passiert: Ein Terrorist entführte eine Passagiermaschine. Er wollte sie mitten in ein Fußballstadion stürzen lassen und so 70 000 Menschen töten. Aber ein Mann - dieser Mann - hatte den Mut und die Kraft zu handeln. Er schoss das Flugzeug ab, alle 164 Insassen starben. Das ist der Vorwurf der Anklage. Und die Staatsanwaltschaft hat recht, Lars Koch hat es getan. Er hat die Menschen im Flugzeug getötet, Männer, Frauen und Kinder. Er hat abgewogen: das Leben von 164 unschuldigen Menschen gegen das Leben von 70 000 unschuldigen Menschen." - S. 18f


Der Film "Terror - Ihr Urteil" hat im April den österreichischen Film- und Fernsehpreis "Romy" erhalten. Das gleichnamige Theaterstück musste dann gleich im Unibuchladen gekauft werden. Die Verfilmung habe ich im Herbst nämlich leider verpasst.

Ferdinand von Schirach ist eigentlich Strafverteidiger. Erst mit 45 Jahren veröffentlichte der Deutsche erfolgreich seinen ersten Erzählband "Verbrechen". Weitere Bestseller folgten, von Schirach wird in viele Sprachen übersetzt und ist sehr beliebt.

Sein jüngstes Werk ist das Theaterstück "Terror". Es handelt von einem Gerichtsprozess über den angeklagten Piloten Lars Koch. Er hat ohne erhaltenen Befehl entschieden, ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug vom Himmel zu holen. Denn nicht nur die 164 Passagiere im entführten Flugzeug waren gefährdet, sondern auch 70 000 Menschen in einem Fußballstadion, das das eigentliche Ziel der Terroristen war. Lars Koch schildert ausführlich, warum und wie er zu seinem Entschluss gekommen ist. Am Ende hat er das Flugzeug vom Himmel geschossen und ist nun des Mordes an 164 Personen angeklagt.

Mein erster Gedanke war: Lars Koch hat zurecht gehandelt. Bei einem Absturz wären die Insassen sowieso gestorben, aber eben auch 70 000 weitere Menschen in Gefahr gebracht worden. Doch je länger ich das Buch las, desto unsicherer wurde ich mit meinem Urteil. Ich wechselte ständig meine Meinung, wollte mich nicht festlegen. Am Ende des Prozess war ich froh, einfach "nur" unbeteiligte Leserin gewesen zu sein. Und nicht als Schöffe entscheiden zu müssen.

Für viele ist das Schöffenamt ein Fremdwort, beziehungsweise macht sich der Großteil der Menschen dazu keine Gedanken, weil die Wahrscheinlichkeit, einmal im Leben in den Schöffendienst einberufen zu werden, eher gering ist. Mein Papa wurde selbst zwei Jahre lang vom Staat Österreich als Schöffe beauftragt. Er hatte zum Glück keine großen Fälle. Es ging nicht um Mord oder Missbrauch. Trotzdem nahm er das Ganze sehr ernst. Schließlich entschied er über das weitere Leben eines zumeist fremden Menschen. Diese Verantwortung muss man sich erst einmal bewusst werden.
Als Leser*in des Theaterstück befindet man sich auch in einer solchen Situation. Nur das es sich in diesem Fall um Fiktion handelt - welche durchaus Realität werden kann.

Aber wohl viel mitreißender wäre es gewesen, im Theater selbst zu sitzen. Denn am Ende des Prozess entscheidet das Publikum, ob Lars Koch verurteilt oder freigesprochen wird. Je nach Mehrheit der Handhebungen der Zuseher*Innen wird das jeweilige Urteil vorgelesen. Diese Mehrheit kann von Theateraufführung zu Theateraufführung unterschiedlich sein - je nachdem, welche Meinung das Publikum vertritt.

Im Buch hat man die Chance beide möglichen Urteile zu lesen. Man muss sich quasi nicht für oder gegen Lars Koch aussprechen. Bücher zwingen nicht zu handeln, zu entscheiden. Aber Bücher regen an, sich Gedanken zu machen und sich Meinungen zu bilden. Und daraus folgen dann auch oft Handlungen.

Bücher, die gegenwärtige Themen und Probleme aufgreifen, finde ich toll. "Terror" ist für mich eine ganz neue Art von Lektüre gewesen, die mir sehr gefallen hat. Vor allem, weil sie bewirkt, sich eine Meinung zu bilden. Weil sie auffordert, sich zu entscheiden. Ein Urteil ist schnell gefällt, wenn die nötige Hintergrundinformation fehlt. Ich war von mir selbst verwundert, wie schnell ich meine Meinung während dem Lesen immer hin und her wechselte und obwohl ich mich in alle Beteiligten hineinzuversetzen versuchte - ich konnte am Ende kein Urteil sprechen. Denn die Frage "Was wäre, wenn ..." zieht sich durchgehend durch den Prozess. Und gerade diese vielen Möglichkeiten, die bestehen hätten können, oder eben nicht, machen es so schwer, eine Entscheidung zu treffen.

Im Buch ist auch noch die Rede "Machen Sie unbedingt weiter" von Ferdinand von Schirach zur Verleihung des M100-Sanssouci Medien Preises an Charlie Hebdo abgedruckt. Der Anschlag auf die französische Zeitschriftenredaktion am 7. Jänner 2015, bei dem insgesamt 17 Menschen starben, hat eine Welle von Solidarität ("Je suis Charlie") auf der ganzen Welt ausgelöst. Millionen Menschen sprachen sich für die Meinungsfreiheit aus. Ferdinand von Schirach sagt unter anderem:

"Es sind nicht die Terroristen, die unsere Demokratie zerstören. Sie können es gar nicht. Nur wir selbst, meine Damen und Herren, können unsere Werte ernsthaft gefährden. Nur wir, die Demokraten, können die Demokratie gefährden. Und das geht schnell. Die Populisten bekommen jetzt Zulauf, die Politiker fordern härtere Gesetze, die Geheimdienste noch mehr Macht. Überall sprechen Parteien von einer 'drohenden Islamisierung Europas', sie fühlen sich durch den Anschlag in Paris 'bestätigt'. Eine Datei auffälliger Personen wird gefordert, eine intensivere Beobachtung des Internets. Das ist die eigentliche Wirkung des Terrorismus, sie ist indirekt und deshalb gefährlich." - S. 161


"Wir müssen den Fanatikern genau das entgegensetzen, was sie am meisten fürchten und hassen: unsere Toleranz, unser Menschenbild, unsere Freiheit und unser Recht." - S. 163


"Es ist keine perfekte Welt, in der wir leben, aber sie ist besser als in den Jahrhunderten zuvor." - S. 164 



Auch du möchtest es lesen?

Genre: Theaterstück mit anschließender Rede
Verlag: btb
Seiten: 164
Preis: € 10,30 (A) | € 10,00 (D)
ISBN: 978-3-442-714964-4

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